Spielen, lernen, einfach Kind sein – das ist in Nordwestsyrien alles andere als selbstverständlich. Im Dauerkrisengebiet sind Kinder und Jugendliche mit einem Alltag voller Unsicherheit konfrontiert: Das fängt bei der Wohnsituation an und hört bei der Versorgung mit dem, was man zum Leben braucht, nicht auf. Besonders gravierend für die Kinder sind die fehlenden Bildungs- und Entwicklungschancen, die seit Kriegsbeginn 2011 eine ganze Generation bereits getroffen haben.
Aktuell ist die Lage so desaströs wie nie zuvor. Denn das Erdbeben vom Februar 2023 hat in der ohnehin von Gewalt und Vertreibung geprägten Region eine weitere Spur der Zerstörung hinterlassen. Viele Familien haben ihr Zuhause verloren, die informellen Zeltstädte sind übervoll und an den Straßenrändern türmen sich die Schuttberge. Von den Zerstörungen sind auch etliche der ohnehin schon wenigen Schulgebäude betroffen, deshalb kann nur noch ein Bruchteil der Schulkinder zum Unterricht gehen. Zudem ist qualifiziertes Personal nicht mehr da und von Freizeitangeboten können die Kinder nur träumen. Stattdessen müssen etliche Kinder und Jugendliche wegen der desaströsen ökonomischen Lage vor Ort zum Familieneinkommen beitragen. Sie werden gezwungenermaßen viel zu früh erwachsen. Was für Mädchen bedeuten kann, frühzeitig in eine Ehe gedrängt zu werden.
Kinder, die nicht lesen, schreiben oder rechnen können, haben ein Leben lang Schwierigkeiten, sich zu informieren, auf Augenhöhe zu kommunizieren und das Leben zu organisieren. Ihnen fehlt das Verständnis für so wichtige Themen wie Gesundheit, Sicherheit und die eigenen Rechte. So setzt sich der Kreislauf von Armut und Abhängigkeit fort. Im schlimmsten Fall werden sie von Extremisten angezogen oder Opfer von Ausbeutung und Missbrauch.
Lernen unter schwierigen Bedingungen
arche noVa stellt mit einem neuen Bildungsprojekt die Bedürfnisse der Kinder in Nordwestsyrien in den Mittelpunkt. Dazu zählt an erster Stelle die Möglichkeit, lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Mit der lokalen Partnerorganisation bieten wir deshalb 800 Kindern (7 bis 15 Jahre) Basisunterricht in Arabisch, Englisch und Mathematik an. Dazu werden Lernzentren eingerichtet, zum Beispiel in Großzelten oder angemieteten intakten Gebäuden. Insgesamt 16 Pädagoginnen und Pädagogen werden den Unterricht übernehmen. Die Kurse dauern jeweils zweieinhalb Monate und ermöglichen je nach Alter und Vorkenntnissen den Einstieg ins Lernen oder das Schließen von Lernlücken, die bei viele Kinder im Laufe der langen Krise entstanden sind. Unser Projekt fördert die Kinder individuell, so dass sie den Anschluss an die Schule finden können.
Teilnehmen werden vom Erdbeben betroffene Kinder sowie besonders bedürftige Kinder. Das Bildungsteam von Bonyan nimmt sich viel Zeit, um die Familien zu ermitteln, deren Kinder ganz besonders dringend Unterstützung benötigen. Dabei geht es neben der Vermittlung von Schulwissen auch um das soziale und psychische Wohlbefinden.
Hilfe, um Erlebtes zu verarbeiten
Der Verlust von Angehörigen, die Flucht vor Gewalt, der Einsturz des Gebäudes, in dem man Zuflucht gefunden hat – all diese Erlebnisse müssen zahlreiche Kinder in Nordwestsyrien verarbeiten. Viele tragen ein oder mehrere Traumata in sich. Oft ziehen sie sich von der Außenwelt zurück, verhalten sich apathisch, verängstigt oder unausgeglichen. Weil sie unter Dauerstress stehen, können sie sich nicht konzentrieren – nicht einmal aufs Spielen. Ihre Widerstandskraft ist beschädigt, psychische und physische Krankheiten können die Folge sein.
Unser Projekt richtet sich an 2.500 Kinder, die psychosoziale Unterstützung dringend benötigen. Sie werden eingeladen, um in einem geschützten Umfeld ihre Freizeit mit Spiel und Sport zu verbringen und dabei psychosoziale Förderung zu bekommen. Darüber hinaus widmet sich das eigens für diese Aufgaben geschulte Team unserer lokalen Partnerorganisation Bonyan ganz individuell einzelnen Kindern, bei denen das Risiko einer psychischen Störung besteht oder sich die Symptome einer solchen Störung zeigen. Bei Bedarf und bei Anzeichen von schwerem (post-)traumatischem Stress überweist das Team die Kinder an spezialisierte Dienste.
Gespräche werden zudem in den Familien geführt, damit auch die Menschen, die sich Zuhause um die Kinder kümmern, die Bedürfnisse der Kinder wahrnehmen und darauf reagieren können. Kinderschutz und Gesundheit sind dabei wichtige Themen.
Auf einen Blick:
arche noVa arbeitet seit über zehn Jahren in der Krisenregion Nordwestsyrien. Hier leben rund 4,4 Millionen Menschen. Etwa 2,8 Millionen davon sind Binnenvertriebene.
Unser neues Bildungsprojekt richtet sich an Kinder, die vom Erdbeben betroffen wurden und an weitere besonders bedürftige Kinder in der Region. Zu den Aktivitäten zählen:
- Reparaturarbeiten an drei vom Beben betroffenen Schulgebäuden
- Unterricht von 800 Kindern in Mathematik, Arabisch und Englisch in Lerngruppen
- 16 Lernpädagogen führen diesen Unterricht durch.
- Die Lerngruppen werden nach Bedarf, Bildungsniveau und Alter zusammengestellt.
- Psychosoziale Betreuung (PSS, Psychosocial Support) und Hilfe für 2.500 Kinder
- 14 durch die Vereinten Nationen geschulte Mitarbeiter setzen die Angebote um.
- Die Kinder erhalten Gruppenangebote und Einzelsitzungen.
- Im Bedarfsfall werden Kinder an spezialisierte Institutionen weitergeleitet (MHPSS, Mental Health and Psychosocial Support).
- Es finden zudem gemeinsame Sitzungen für Eltern und Kinder statt, um den familiären Umgang mit Traumata und posttraumatischen Belastungsstörungen innerhalb der Familien zu fördern.
- Das Thema Kinderschutz wird zudem mit Hilfe von Broschüren gefördert und die Bevölkerung so sensibilisiert.